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Letzte Bearbeitung: 16.11.2009 12:05
 

Bastian Sick

Kasus Verschwindibus

Bastian Sick
06.07.04

In der Schule lernen wir, dass die deutsche Sprache vier Fälle hat. Später aber stellen wir fest, dass es noch einen fünften geben muss: den unsichtbaren Fall, auch Kasus Verschwindibus genannt. Man findet ihn zum Beispiel an den Ufern des Rhein und beim US-Präsident.

Sommerzeit ist Saure-Gurken-Zeit, da muss schon mal der eine oder andere Veteran hervorgezerrt werden, um die Spalten einer Zeitung zu füllen. Wer nicht gerade an der See ist oder in den Bergen, darf sich auf Neues über Niki Lauda freuen, denn SPIEGEL ONLINE verspricht ein Interview "mit dem Formel-1-Veteran".

Mit dem Formel-1-Veteran? Fehlt da nicht was? Ich zeige den Satz einem Kollegen, der nimmt einen Stift und quetscht ein "Ex-" vor "Formel-1-Veteran". Völliger Quatsch natürlich: einmal Veteran, immer Veteran. Was tatsächlich fehlt, ist die Endung: mit dem Veteranen. Denn der Veteran ist nicht nur alt, sondern auch gebeugt – jedenfalls im Dativ. Und die Präposition "mit" regiert nun mal den Dativ.

Alle waren schockiert über jene Schreckensmeldung aus dem Irak, die da lautete: "Terroristen exekutieren US-Soldat". Schockierend war nicht nur der Inhalt der Meldung, sondern auch der Umgang mit der Grammatik. "Es muss US-Soldaten heißen", wende ich ein, "denn der Soldat wird in Dativ und Akkusativ zum Soldaten." – "Aber dann denken die Leser, dass mehrere Soldaten erschossen wurden", entgegnet mein Vorgesetzter, "das wäre doch missverständlich. So ist es klarer!" So ist es auf jeden Fall falscher. Man muss sich schon entscheiden, ob man das Risiko eingeht, der Leser könne zwei Sekunden lang an einen Plural glauben, oder ob man ihn lieber glauben lassen will, man habe Probleme mit der deutschen Sprache.

Dasselbe Problem steckt auch in der folgenden Aussage: "Die Mehrheit der Wahlmänner und -frauen hat sich auf Horst Köhler als Bundespräsident festgelegt". Im Nominativ ist Horst Köhler als Bundespräsident korrekt, doch im Akkusativ muss, sollte, darf und kann man ihn nur als Bundespräsidenten bezeichnen.

Kennen Sie jemand, der sich von niemand beugen lässt? Das wäre – in grammatischer Hinsicht – keine gewinnbringende Bekanntschaft. Sollten Sie aber jemanden kennen, der niemandem einen Ge-Fall-en ausschlägt, dann dürfen Sie sich glücklich schätzen.

Am schlimmsten bedrängt vom Kasus Verschwindibus ist der Genitiv bei sächlichem und männlichem Hauptwort im Singular und bei Namen. Irgendjemand muss das Gerücht in die Welt gesetzt haben, der Genitiv brauche kein Endungs-s mehr, wenn vor dem Wort bereits ein "des" oder etwas Ähnliches steht.

Goethes berühmter Briefroman hieß zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Jahre 1774 noch "Die Leiden des jungen Werthers". Auf heutigen Ausgaben steht meistens "Die Leiden des jungen Werther", ohne s. Die Endung des Werthers ein Opfer des Kasu Verschwindibu.

Buchcover (Die Leiden des jungen Werther(s)

Von Werthers Echte Leiden zu den neuen Leiden des jungen W.

Die Opfer des 11. September. So hat man es tausendfach gelesen und gehört. Nicht "des 11. Septembers", sondern "des 11. September". Wenn man die Verursacher des September-s-Wegfalls fragt, was sie dazu veranlasst habe, so antworten die meisten, die Form ohne "s" klinge in ihren Ohren "irgendwie richtiger".

Begründungen, die das Wort "irgendwie" enthalten, die also irgendwie so aus dem Bauch heraus entstanden sind, taugen meistens nicht viel. Natürlich muss es "des 11. Septembers" heißen, was sollte am Weglassen eines Schlusslaut elegant sein? (Wenn Sie eben zusammengezuckt sind und denken: es muss doch "Schlusslautes" heißen, dann ist das der beste Beweis.)

Zwar lassen heutige Grammatikwerke den Weg-Fall bei Personennamen und Ortsnamen zu, weisen aber im Allgemeinen darauf hin, dass nichts dagegen spricht, das Genitiv-s weiterhin zu verwenden.

Viele Redaktionen haben sich darauf geeinigt, im Falle des Iraks nur vom Fall des Irak zu sprechen. Das ist ihr gutes Recht, aber das heißt noch lange nicht, dass das Genitiv-s bei Namen grundsätzlich nichts mehr zu suchen hätte. Ein Gesetz zur Abschaffung der Genitivendung hat es zum Glück bisher noch nicht gegeben; das führte wohl auch zu einem Aufschrei des Entsetzen.

Die Tendenz, auf Kasusendungen zu verzichten, gibt es indes schon lange. Der Dativ hat sich bereits mit dem Verlust des Endbuchstabens e bei männlichen und sächlichen Hauptwörtern abgefunden: Dinge, die einst "zum Wohle des Volkes" beschlossen oder "dem Kinde zuliebe" gemacht wurden, werden heute meistens nur noch "zum Wohl des Volkes" beschlossen oder "dem Kind zuliebe" gemacht.

Doch "am Fuß des Vesuv" ist es genauso nackt wie "an den Ufern des Rhein". Und ein bisschen mehr Beugungen wünscht man sich auch für die anscheinend endlose und vor allem endungslose "Erfolgsgeschichte des Kerpener vom Kart-Pilot zum Top-Favorit des deutschen Motorsport". Wo der kassierte Kasus grassiert, wird man früher oder später des Wahnsinn fett Beute.

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http://www.kolumnen.de/sick-060704.html