Gralis/Sprachwissenschaft/
Manfred Trummer
1918-1938/1941 „Deutsche Slawistik“, ein Neubeginn (H.F. Schmid, J. Matl, S. Pirchegger)
Mit dem Zerfall der Monarchie und der Trennung der slawischen Länder und Landesteile von Österreich hatten sich Stellung und Funktion der Slawischen Philologie in Wien und Graz, bisher kulturelle und wissenschaftliche Zentren auch der Slawen, verändert. In Konsequenz waren die Grazer Fachvertreter, die Slowenen Rajko Nachtigall und Fran Ramovš, an die neu gegründete Universität in Ljubljana gewechselt und hatten damit den Schlusspunkt unter die linguistisch und philologisch so ertragreiche erste, slowenische Phase der Grazer Slawistik gesetzt. Es bedurfte des Neubeginns und der Neuorientierung, nach Möglichkeit unter Bewahrung eines Mindestmaßes an Kontinuität.
Für Graz bedeutete es 1923 die Berufung des ersten Deutschen auf eine österreichische slawistische Lehrkanzel, des in Berlin gebürtigen, theologisch gebildeten Juristen und Slawisten Heinrich Felix Schmid (1896‑1963), der sich nach seinem Studium in Leipzig (beim „Grazer“ M. Murko und M. Vasmer) mit seiner vielbeachteten Dissertation zur sprachlichen Seite der Nomokanonübersetzung des Methodius (Leipzig 1922) als potentieller Fortsetzer einer von V. Oblak und R. Nahtigal grundgelegten Grazer Tradition der sprachbezogenen altslawischen Textphilologie empfohlen hatte. Schmid wird dieser Richtung treu bleiben, der Schwerpunkt seines Forschungsinteresses wird sich allerdings auf die vergleichende slawische Kultur-, Religions- und Rechtsgeschichte verlagern (vgl. das monumentale Werk Die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittelalters , 1926‑1931, Weimar 1938) – eine Themenerweiterung ganz im Einklang mit seinem Fachverständnis, niedergelegt in Wesen und Aufgaben der deutschen Slawistik. Ein Programm (Leipzig 1927): Einbeziehung der slawischen Kulturen in ihrer ganzen Breite, der vergleichende Aspekt, die Thematisierung der westeuropäisch-deutsch-slawischen und innerslawischen Wechselbeziehungen, die Vermittlerfunktion zwischen deutscher und slawischer Wissenschaft.
Ebendieses Verständnis einer neuen Slawistik teilt der 1928 in Graz habilitierte Deutsch-Untersteirer Josef Matl (1897‑1974), der seinerseits die südslawistische und slowenistische Tradition der ersten Phase aufgreift und in M. Murko seinen geistigen Lehrer verehrt. Sein weit gefächertes Interesse wird vornehmlich den deutsch-slawischen und südosteuropäischen Wechselbeziehungen in Literatur und Kultur gelten, insbesondere der Volksliteratur und Volkskultur samt deren sprachlichem Substrat.
An die sprachhistorische Tradition eines V. Oblak, K. Štrekelj und R. Nahtigal wiederum knüpft der Obersteirer Simon Pirchegger (1889-1946) an, 1927 bei M. Vasmer in Leipzig mit einer vorbildlichen Dissertation zum slawischen Ortsnamengut der Steiermark ( Die slawischen Ortsnamen im Mürzgebiet , Leipzig 1927) promoviert und 1931 bei H. F. Schmid in Graz mit einer sprachhistorisch-textphilologischen Studie zu den ältesten Texten des Slowenischen ( Untersuchungen über die altslovenischen Freisinger Denkmäler, Leipzig 1931) habilitiert.
Alte Universität Graz |
Mit dem gemeinsamen Wirken von H. F. Schmid, Josef Matl und S. Pirchegger mit ihren sich ergänzenden Schwerpunkten und Ansätzen, neuen und traditionellen, hat die Grazer Slawistik unter den neuen Bedingungen und Anforderungen wieder zu einer Fülle und einem Ganzen mit Vorbildcharakter gefunden. Es sollte allerdings nicht auf lange sein: Mit dem Anschluß 1938 wird H. F. Schmid zwangspensioniert, mit Kriegsbeginn wird er zur Wehrmacht eingezogen, J. Matl ebenfalls. Dem Geistlichen S. Pirchegger wird die Berufung (nach H. F. Schmid) verweigert und 1946 ist auch sein Lebensweg zu Ende.
Letztlich eine nur vorübergehende Zäsur, denn H. F. Schmid wird 1945 die Lehrtätigkeit wieder aufnehmen, bis er 1947 als Ordinarius für osteuropäische Geschichte an die Universität Wien wechselt, und J. Matl wird 1948 zurückkehren und die Lehrkanzel bis zu seiner Emeritierung 1968 innehaben. Und die Traditionslinie der philologischen Paläoslavistik und historischen Sprachwissenschaft wird durch den van Wijk-Schüler Bernd von Arnim als interimistischen Vertreter der Lehrkanzel einen neuen Impuls erfahren, der das Profil der Grazer Slawistik auf Jahrzehnte wesentlich mitbestimmen wird.
1941-1944 Ein neuer Impuls (B. von Arnim)
Im Frühjahr 1941 wird die Leitung des Grazer Slavischen Seminars dem Berliner Dozenten Bernd von Arnim (1899-‑1946) übertragen. Promoviert 1930 bei N. van Wijk in Leyden und habilitiert 1932 bei M. Vasmer in Berlin, jeweils mit bedeutenden Schriften zur altkirchenslawischen Textphilologie ( Die Schreiber des Psalterium Sinaiticum und ihre Vorlage, Leyden 1930, bzw. Studien zum altbulgarischen Psalterium Sinaiticum, Berlin 1930; Beiträge zum Studium der altbulgarischen und altkirchenslavischen Übersetzungskunst, Berlin 1931) widmet sich B. von Arnim in der Folge neben dem Altkirchenslawischen vorrangig dem Bulgarischen in seiner historischen Dimension, der historischen Dialektologie, Lautlehre und Lexik (vgl. ua. Mazedonisch-bulgarische Studien 1-4, 1933-1937) sowie dem protobulgarischen lexikalischen und kulturellen Erbe. In Graz weitet sich sein Interesse auf linguokulturelle Fragestellungen aus, und zwar im Rahmen einer vergleichenden Volks- und Kulturkunde, die den mittleren und fernen Osten einbezieht. Allerdings muß ein diesbezügliches erstes, breit angelegtes Forschungsprojekt, von einer ersten Veröffentlichung abgesehen (vgl. Slavische Sternsagen und Sternnamen 1. Die Vorstellung: Mädchen mit Eimer und (oder) Tragstange, 1942), unverwirklicht bleiben. Ebenso weitere Projekte zur bulgarischen und slawischen Etymologie und Onomastik. Denn 1944 reißt ihn die Einberufung zur Wehrmacht mitten aus angespannter Forschungsarbeit, und kaum aus Gefangenschaft zurückgekehrt, ereilt ihn 1946 der Tod.
Bernd von Arnim ist in Graz nur kurze Zeit beschieden, hier aber findet er in Linda Sadnik, dem Seminar schon seit 1937 als Bibliothekarin und Lektorin verbunden, eine kongeniale Schülerin und Mitarbeiterin vor, der er in den wenigen Jahren die Begeisterung und das Rüstzeug für die wissenschaftliche Arbeit und die Fortsetzung seiner sprach- und kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtung zu vermitteln vermag. Aus diesem Erbe und Anstoß wird sich eine ganze Schule, die „Grazer Schule“ entfalten.
1945 – 1975 Die „Grazer Schule“ (J. Matl, L. Sadnik, R. Aitzetmüller, H. Schelesniker …)
Nach 1945 setzen H. F. Schmid (in Graz nur noch bis 1947) und J. Matl (ab 1947) dort fort, wo sie 1938 bzw. 1939 unterbrechen mußten, in ihren wissenschaftlichen Profilen und in ihrem kulturpolitischen Anliegen als Vermittler zwischen slawischer und nichtslawischer Welt, zwischen Ost und West, dem sie in der gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift Blick nach Osten (1948-1952) programmatisch Ausdruck verleihen.
Für Josef Matl, 1948-1968 Vorstand des Seminars bzw. Instituts, stehen weiterhin die slawische und südosteuropäische Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte in ihren vielfältigen Wechsel- und Kontaktbeziehungen im Zentrum seines überreichen Schaffens (vgl. stellvertretend die Synthese Europa und die Slaven , Wiesbaden 1964, und den Sammelband Südslavische Studien , München 1965). In seiner kulturellen und gesellschaftlichen Bezogenheit implizit präsent ist fast immer auch das sprachliche Thema, zuweilen widmet Matl sich diesem in eigenen, kleineren Beiträgen (vgl. einige wenige charakteristische Titel: Zur Frage der semasiologisch-kulturhistorischen Erforschung der Lehn- und Fremdwörter im Slovenischen, 1950, Zur Bezeichnung und Wertung fremder Völker bei den Slaven , 1956, Deutsche Lehn und Fremdwörter in den südosteuropäischen Sprachen als volks- und kulturgeschichtliche Quelle , 1958, Slow., skr., bulg. baraba …, 1958, Zum Argot im Slavischen der Gegenwart, 1960). Sein kultur- und wissenschaftspolitisches Anliegen, Südosteuropa als Gegenstand einer grenzüberwindenden Forschungs- und Forschergemeinschaft zu fördern, setzt Matl in den 60-er Jahren mit einer Reihe von Balkanologentagungen um und affirmiert damit Graz als balkanologisches Zentrum, was sich nicht zuletzt in der – vorübergehenden zwar – Erweiterung der Institutsbenennung auf Institut für Slawistik und Südostforschung niederschlägt.
Auf sprachwissenschaftlicher Seite wird mit Linda Sadnik (1910-1998) die altslawistische Traditionslinie van Wijk – von Arnim dominant. Als Deutsch-Untersteirerin in slowenischer Umgebung geboren und aufgewachsen, in den 30-er Jahren von J. Matl und H. F. Schmid slawistisch eingeführt und für das Seminar gewonnen, findet sie im van Wijk-Schüler Bernd von Arnim ihren Lehrer und ihr Vorbild. Bei ihm mit einer Dissertation zum bulgarischen Volksrätsel 1943 promoviert, bleibt sie seiner zuletzt kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtung bis zu Anfang der 50-er Jahre verbunden. Habilitiert noch bei H. F. Schmid 1947 mit einer vielbeachteten Arbeit aus ebendiesem Bereich ( Südosteuropäische Rätselstudien, Graz-Köln 1953), wendet sie sich im Zuge der 1948 aufgenommenen Lehrtätigkeit zunehmend dem altkirchenslawischen und sprachhistorischen Thema zu. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei – außer dem Vermächtnis von B. von Arnim – die wissenschaftliche und ab 1951 auch Lebenspartnerschaft mit ihrem und des Indogermanisten W. Brandenstein Schüler Rudolf Aitzetmüller (1923-2000). Vieles wird in der Folge gemeinsam erarbeitet, mit Graz als dauerndem Mittelpunkt auch über Zeiten berufsbedingter Trennung hinweg: L. Sadnik folgt 1959 einem Ruf an die Universität des Saarlandes und kehrt 1968 nach Graz zurück, wo sie 1975 emeritiert. R. Aitzetmüller lehrt ab 1961 in Heidelberg, Tübingen und Würzburg bis zu seiner Emeritierung 1991.
Ein Anliegen von Anfang an ist beiden die Förderung der altslawischen Studien im Rahmen einer in jenen Jahren in West und Ost expandierenden akademischen Slawistik, für die es gilt, Arbeitsinstrumente, Textgrundlagen und Publikationsmedien zu schaffen bzw. verfügbar zu machen:
Als Arbeitsinstrument ersten Ranges bestätigt sich bis heute das gemeinsam erarbeitete Handwörterbuch zu den altkirchenslavischen Texten (Heidelberg 1955), das außer dem Wörterbuchteil noch ein für Arbeiten zur Wortbildung unentbehrliches rückläufiges Register – damals eine Neuigkeit – sowie einen etymologischen Teil aufweist, nach Wortsippen geordnet, auf die vom Lemma her verwiesen wird. Ein breit angelegtes Vergleichendes Wörterbuch der slavischen Sprachen schließlich beginnt ab 1963 in Lieferungen zu erscheinen, allerdings wird der Mangel an Unterstützung trotz des aufrechten Desideratcharakters eines solchen Werks die Autoren mit Abschluß des ersten Bandes (A–B, Wiesbaden 1975) resignieren lassen.
Auf ihre Initiative und in Zusammenarbeit mit der Grazer Akademischen Druck- und Verlagsanstalt (ADEVA) erscheinen – als innovative Vorreiter einer später boomenden Sparte – die ersten Reprints der klassischen Texteditionen des 19. Jahrhunderts, als Serie Editiones monumentorum linguae slavicae dialecti veteris (hgg. vom Seminar/Institut für Slawistik, Graz 1954-1975) organisiert. Etwas später folgen die Monumenta linguae slavicae dialecti veteris – Fontes et dissertationes (hgg. von L. Sadnik, R. Aitzetmüller und J. Matl, Wiesbaden 1964ff). In beiden Serien werden die Reprints bald vor originalen Editionen und Abhandlungen zurücktreten. Ein drittes gemeinsames Editionsvorhaben ist die Zeitschrift Anzeiger für slavische Philologie (hgg. von L. Sadnik und R. Aitzetmüller 1966ff) als zentrales Organ des sich ausweitenden fachnahen Schüler- und Kollegenkreises.
Im Zentrum des textphilologischen Interesses des Forscherpaares steht das Werk des altbulgarischen Schriftstellers Johannes des Exarchen, von dem R. Aitzetmüller das Hexaemeron und L. Sadnik die Übersetzung der Theologie des Hl. Johannes von Damaskus in monumentalen Editionen vorstellen (Das Hexaemeron des Exarchen Johannes 1-7 , Graz 1958-1975; Des Hl. Johannes von Damaskus Εκθεσεις ακριβης της ορθοδοξου πιστεως in der Übersetzung des Exarchen Johannes 1-4, Wiesbaden… 1967-1983).
Außer der lexikographischen und editorischen Arbeit umfaßt L. Sadniks Forschungsleistung Beiträge zur altkirchenslawischen Etymologie und Lexikologie (vgl. Gesammelte Aufsätze zur slawischen Lexik und Semantik, Freiburg i. Br. 1991), zur vergleichenden Grammatik, insbesondere zur Akzentologie (Slavische Akzentuation 1. Die vorhistorische Zeit, Wiesbaden 1959) und älteren Lautgeschichte sowie – und das in einem besonders innovativen und fruchtbaren Ansatz – zum kategoriellen und morphologischen Ausbau des slawischen Verbalsystems (vgl. u. a. Das slavische Imperfekt, 1960; Die Nasalpräsentia und das frühurslavische Verbalsystem, 1962). Ebendiese Themenbereiche werden auch von R. Aitzetmüller forschend erschlossen, wie für die Arbeitsweise der beiden Forscher generell die wissenschaftliche Diskussionsgemeinschaft charakteristisch ist, in die auch die Schüler eingebunden und zur gemeinsamen Lösungssuche eingeladen werden. Und nicht zufällig haben ihrer erstaunlich viele den Weg in die Wissenschaft gefunden und zur Bildung einer „Grazer Schule“ beigetragen.
Zu Sadniks Schülern der ersten Grazer Zeit zählen u. a. Rudolf Aitzetmüller, Harald Jaksche, Anneliese Lägreid, Herbert Schelesniker. Dazu stoßen in Saarbrücken u. a. Klaus Trost, Wolfgang Eismann, Eckhard Weiher. Und wiederum in Graz u. a. Maximilian Hendler, Manfred Trummer, Heinz Miklas. Die Dissertationen und meist auch die Habilitationsschriften all dieser behandeln Themen aus dem Forschungsbereich ihrer Lehrerin. Viele von ihnen sind der Paläoslawistik auf Dauer verbunden geblieben und bilden, wo immer auch, ihrerseits Schüler im Sinne der Anliegen der „Grazer Schule“ aus.
Die Linie Sadnik – Aitzetmüller in ihrer eher traditionellen Ausrichtung verbindet sich in Graz auch mit dem arealen Ansatz der Sprachbundlinguistik und mit dem strukturellen Ansatz der Prager phonologischen Schule, beide Aspekte eingebracht von Stanislaus Hafner (geb. 1916 in St. Veit/Gl.; unmittelbarer Schüler N. S. Trubetzkoys in Wien, nach dessen Tod in Graz bei B. von Arnim 1943 promoviert, ebendort bei J. Matl 1964 habilitiert und 1966 mit der wiedererrichteten zweiten Lehrkanzel betraut, emeritiert 1987). Diese methodische Aktualisierung der sprachhistorischen Forschung Grazer Tradition hat allerdings nicht mehr das Verständnis und die Zustimmung des inneren Kreises um L. Sadnik gewinnen können, zum Nachteil der Nachhaltigkeit dieser Tradition gerade an ihrem Ausgangsort. Der wichtigste Beitrag St. Hafners zur Bereicherung der slawischen Sprachwissenschaft in Graz – sein eigentlicher Schwerpunkt liegt in der slawischen Geistesgeschichte – wird die Wiederaufnahme des slowenistischen Themas sein, und zwar durch die Initiierung und leitende Betreuung (gemeinsam mit seinem und J. Matls Schüler Erich Prunč) des großangelegten Forschungsprojekts zur Inventarisierung der slowenischen Volkssprache in Kärnten, dessen Frucht sich seit 1982 im Thesaurus der slowenischen Volkssprache in Kärnten (Wien: Österr. Akad. d. Wiss. 1982ff) niederschlägt. Dieses Projekt wird zusammen mit dem gesundheitsbedingten Rückzug von L. Sadnik von der Lehre 1975 auch das „Grazer Paradigma“ zurücktreten lassen und einen neuen Abschnitt markieren.